PhysioSein: Von viel Schein und wenig Sein - handelt diese Geschichte. Letztens wurde ich mal wieder Zeugin eines Gesprächs über Physiotherapie. Das war deswegen so interessant, weil alle Beteiligten wenig Ahnung von medizinischen Problemen hatten. Aber viel Erfahrung mit allerlei körperlichen Dingen: Rückenschmerzen seit 7 Jahren, motorische Ausfälle an der Extremität, Muskeldysbalancen zwischen Fuß und Becken, Fehlstellungen usw.
In einem waren sich zunächst alle schon mal einig: Suchplattformen im Internet sollte man zu seinen Problemen nicht befragen...(Das kann ich übrigens bestätigen).
Bemerkenswert war folgendes: Recht rasch folgten Tipps, was so helfen kann und wie wichtig doch gute Physiotherapie sei (naja, und vorher natürlich ein Arzt - am besten ein männlicher, mit viel Erfahrung, der am besten Sportmediziner und Orthopäde, Chiropraktiker und "ein ganz netter" ist).
Es wurden Tipps gegeben wie Rückenbücher von Doktoren und Training bei permanent werbenden Kraftaufbaustudios. Und es wurde sich über Physiotherapie ausgetauscht. Ich hörte also:
Physiotherapeuten mit vielen Tätigkeitsbeschreibungen sind die besten ("Aber er ist auch Chiropraktiker und Osteopath!")
Physiotherapeuten, die einen ganz genau und lange befragen, sind bestimmt kompetent ("Der hat die ganze Zeit nur gefragt - das ist doch schon mal gut!").
Man muss halt erst mal abwarten, bis die Physiotherapie was besser macht ("Es liegt ja auch an einem selbst, ob das was bringt. Man muss halt auch Geduld haben! Und ohne Hausaufgaben wird das eh nichts").
Triggerpunkte sind das Problem - und die sollte man behandeln lassen ("Du, da gibt es so Punkte unter dem Schulterblatt, die werden von Muskeln verursacht - die sind oft das Problem! Da muss man dann ganz lange drauf drücken lassen und dann kann der Schmerz weggehen!")
Ich hörte so zu und dachte mir zu den einzelnen Punkten:
Jetzt bin ich seit 1996 Physiotherapeutin - Osteopathie kannte kaum jemand, Physios, die Chiropraktik machen, müssen mindestens mal Heilpraktiker sein und es gibt viel Bezeichnungen, die sich toll anhören, aber nichts bedeuten. Und ohne ist man auch erfolgreich tätig!
Wie rechnet der Physiotherapeut lange Gespräche eigentlich ab? Sind das alles Selbstzahler-Patienten?!
Woher kommt es, dass Patienten denken, dass Physiotherapie nur hilft, wenn man lange hingeht? Wer hat ihnen erzählt, dass es ohne Hausaufgaben nichts bringt?!
Triggerpunkte können alles mögliche sein - die Frage ist doch: Wie und warum sie entstehen. Und ob sie wirklich die Ursache sind. Werden sie wirklich so plötzlich nach 50 Lebensjahren auffällig? Und wenn ja, warum?
Ich erinnerte mich an einen Patienten, den ich mal hatte. Er berichtete mir, dass sein Tennisellenbogen seit 1,5 Jahren behandelt wird. Mit Holzstäbchen, Massagen und Elektrotherapie. Als meine Frage zu seiner HWS sowie meine neurodynamische Testung am Arm ergab, dass diese Problembereiche zusammenhängen, schaute er mich groß an. So etwas hätte ihn noch keiner gefragt und den Test habe auch noch nie einer gemacht. Die vermeintliche "Muskelverhärtung" befand sich interessanterweise direkt im Bereich des Gewebetunnels, durch welche ein Nerv zieht. Dieser hat gerne mal Einfluss auf Beschwerden dort.
Oder ich denke an eine Patientin mit Schmerzen in der oberen Extremität, die HWS-Probleme hatte, beidseits die Diagnose Tennisellenbogen und zwei Narben im Bereich des Handgelenks (von einer Carpaltunnel-OP). Und trotzdem eine weitere OP im Raum stand. Ihr Physio wisse auch nicht mehr weiter.
Und mir fällt ein Bekannter ein, der wegen eines Kribbelgefühls im Daumen mit Mitte Dreißig an der HWS operiert werden sollte. Und nach zwei gezielten physiotherapeutischen Behandlungen keine Probleme mehr im Daumen hatte. Übrigens ganz ohne Hausaufgaben.
Hier meine Erfahrungen, was Du als Patient bei der Wahl oder einer Empfehlung zu Physiotherapeuten beachten solltest:
Nur, weil Deine Freunde oder Kollegen oder wer auch immer einen guten Physio kennt, heißt das nicht, dass er auch für Dich geeignet ist.
Ob Osteopath, Heilpraktiker, Bachelor, Chiropraktiker oder andere vielversprechend klingende Titel - das ist nicht das Entscheidende. Kompetenz zeigt sich durch andere Dinge. Die Frage ist doch, warum macht jemand solche Qualifikationen und was macht ihn daran zu einem Top-Therapeuten?
Ein Eingangsgespräch gehört in jede Physiotherapie. Jedoch auch eine zielführende, plausible Untersuchung. Doch beides sollte ökonomisch sein. Wichtig sind Fragen zum Alltag, Tätigkeiten, Hauptproblemen, Verlauf der Problematik, bisherige Maßnahmen und Nebendiagnosen. Vieles andere lässt sich auch mit einem Fragebogen erheben. Ohne die u.U. teure Zeit eines Therapeuten.
Wird zu früh eine Behandlungsstrategie eingeschlagen, deren Effekt nicht regelmäßig überprüft wird - aufgemerkt! Man sollte dann als Patient nachfragen dürfen. Es besteht übrigens eine Pflicht der Aufklärung und des Einverständnis zu physiotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen. Diese erfolgt seitens des Therapeuten ggü. dem Patienten - und nicht nur einmal zu Beginn.
Und als Physio? Beachte vielleicht diese Dinge, damit Dein Sein nicht Schein ist:
Reflektiere Deine Kommunikation - sie zeigt Patienten Deine Kompetenz. Denn Patienten können mit physiotherapeutisch-multiplen Konzepten wenig anfangen. Für sie ist die Bezeichnung Physiotherapie die Kompetenz ("Wie, es gibt verschiedene Manuelle Therapien??").
Kontroliiere Deine Behandlungsstrategie regelmäßig - jeder Patient reagiert anders. Und braucht auch anderes.
Gib keine pauschalen Tipps ab - doch geh auf Sorgen und Ängste, Kritik und Anregungen ein, die Patienten Dir gegenüber zeigen.
Wenn Du Weiterbildungen und Titel erwirbst, sollten diese Deine Kompetenz erweitern - nicht zu unreflektiertem, übernommenen Verkaufen von Ideen der Wissensvermittler führen ("Ey der Kursleiter war SUPER - der betreut auch die Sportler vom ... und DER hat gesagt, dass...!") .
Wenn Du "Physio-Nehmer" bist, wünsche ich Dir den Mut zum Nachfragen und kritischem Reflektieren. Die Offenheit zu sagen, was Dir wichtig ist und was nicht (Hausaufgaben??!!). Und ich wünsche Dir das Vertrauen in Deine Bewertung der Sozialkompetenz von Physiotherapeuten.
Bist Du "Physio-Geber", wünsche ich Dir Kursleiter, die wissenschaftliche Erkenntnisse mit klinischer Erfahrung verknüpfen. Die vielseitig aus- und weitergebildet sind. Und den Mut, am Sein zu arbeiten - und nicht am Schein.